78 Pedrouzo – Santiago de Compostela

Donnerstag, 17.Juni 2004, 25 km

Wetter: sonnig, sehr heiss, frischer Wind

Heute sollte ein wichtiger Tag sein. Es geht aber genauso los wie immer. Start im Dunkeln, schön kühl, durch den Ort, schließlich in finstere Eukalyptuswälder. Pilgerschemen im Morgendämmer.

Nach 6 km Frühstückspause in kleiner Bar in Amenal. Die 3 Spanier sind auch da, wir begrüßen uns freundlich. Inzwischen ist mein Spanisch so weit ausgereift, dass ich tatsächlich ein komplettes Frühstück bekomme. Dass Tostados das selbe ist wie Toast, ist ja eigentlich auch nicht sehr schwer.

Abwechslungsreiche Wegführung durch Apothekenduft, am Flugplatz vorbei. Die Gebietsgrenze von Santiago markiert eine monströse Plastik. Mag ich nicht fotografieren. Schon von fern zu sehen: der Monte do Gozo, der Berg der Freude. Mal sehen, ob ich selbige empfinde, wenn ich dort bin. Die Aussicht über Santiago soll umfassend sein. Großes Denkmal, kleine Bar, Aussicht umfassend aber die typischen Türme der Kathedrale kann ich nirgends finden. Bin ein wenig enttäuscht. Sms-Pieps. Birgit Oe. begrüßt mich rechtzeitig mit einem passenden Kantatenanfang.

Langer Weg hinunter in die Stadt. An der Brücke über die Autobahn steht das Ortsschild. Oh Gott, wie fehlt mir Margret. Hätte sie so gerne an diesem Augenblick teilhaben lassen.

Überall wird der Jakobsweg mit grob gebrochenen Natursteinplatten frisch gepflastert, soll wohl zum großen Feiertag am 25. Juli noch fertig werden. Sieht zwar gut aus, man weiß auch, dass man auf dem richtigen Weg ist, aber zum Gehen… die Planer sind wohl noch nie auf langer Wanderung gewesen.

Kurz vor der Altstadt noch mal gemütliche Pause in einer Bar, habs ja überhaupt nicht eilig, erst in 1 1/2 Stunden beginnt die große Pilgermesse. In der Altstadt Pilgermassen.

Vor der Treppe zur Kathedrale die 3 Spanier. Wir begrüßen uns mit Hallo und emporgerecktem Daumen. Die junge Frau macht ein Erinnerungsfoto für mich. Im Pilgerbüro nebenan lasse ich mir die Urkunde ausstellen. Kurz frisch machen im Hotel und ab in die Messe. Die Kathedrale ist voll, keine Sitzplätze mehr, ständiges unruhiges Kommen und Gehen. Eine Nonne mit sehr schöner Stimme trainiert die Gemeinde mit Ubi Caritas und Halleluja aus Taizé. Da Liedblätter fehlen, ists nicht ganz einfach. Prunkvolle Messe. Ich stehe an einen Pilaster gelehnt, etwas erhöht auf einer Steinkante. Nicht sehr bequem, aber übersichtlich. “You have such a nice voice!” Ältliche Amerikanerin. Kein Armtätscheln. Unruhe entsteht. Der große Weihrauchkessel, botafumeiro, wird fertiggemacht, hochgezogen, rauscht und raucht spektakulär über die Köpfe hinweg durch das Querschiff. Applaus.

Zurück im Hotel weiß ich nicht, warum ich 1 1/2 Std. heulend auf dem Bett liege. Raus in die Hitze. Es will sich kein Gefühl der Zufriedenheit, der Freude, geschweige denn des Triumphes einstellen. Ich sehe den Pilgern zu, die an der Apostelsäule hinter dem großen Haupteingang die übliche Zeremonie vollziehen: Finger in die von zigtausend Händen glattpolierten Kuhlen des Säule, Kopf auf die Büste des Baumeisters darunter. In mir weigert es sich, diese Geste der Unterwerfung zu vollziehen, war zu lange im Baugeschäft. Der Apostel auf der Säule schaut verblüffend lebensnah freundlich nachsichtig. Die Kathedrale ist zu voll zum Singen.

Aber vielleicht hat ja eine der vielen anderen Kirchen offen, klappere sie der Reihe nach ab, alle geschlossen. Im Touristinfo erhalte ich eine Liste mit ihren Öffnungszeiten. Hab noch Zeit und versuche, meinen Frust mit Essen zu erschlagen. Mäßiger Salat unter hübschen Arkaden. Die Altstadt von Santiago ist ein Gedicht, abwechslungsreich und räumlich spannend.

Auf zum Rundgang durch die nun sicher offenen Kirchen. Alle zu, vielleicht öffnen sie ja etwas später. Großes Eis, kleine Internetergänzung in zu schwülem Cybercafe. Dritter Versuch: Wieder alle zu. Habe auf diese Weise die Altstadt zwar auf verschiedenen Wegen gründlich durchstreift, bin aber maßlos enttäuscht und verkrieche mich in meinem Zimmer.

Es hat eine wunderbare Aussicht auf die Türme der Kathedrale, in tollem Hotel mit wiederum historischem Innenhof (war früher die offizielle Pilgerherberge, hier aber keine Ermäßigung für Pilger über 60). Eine paar Nummern kleiner hätts auch getan. Ich stopfe Schokolade und Weißbrot in mich rein, schütte Wein hinterher und weiß nicht, wie ich mich aus der depressiven Stimmung befreien soll. In einer Viertelstunde macht die Kathedrale zu. Hab keine Lust! Ein Stimmengewirr in mir: Reiß dich zusammen, los mach dich auf, so kannst du diesen Tag doch nicht beenden.

Ich lasse mich widerstrebend antreiben, schlüpfe lustlos in meine Hose und gehe rüber zur Kirche. Das Aufsichtspersonal treibt die letzten Gläubigen hinaus. Ich bleibe noch sitzen, trau mich zunächst nicht, mache mehrere Anläufe, überwinde mich dann: Befreiendes       Laudate in den wunderbaren Riesenraum.

In einem offenen Garten lasse ich bei einigen Bierchen mit cacahouettes entspannt und zufrieden fröhliche Menschen im lauen Abend vorüberziehen, ein Stehgeiger spielt virtuos Vivaldi, meine 3 Spanier winken lachend.

Ist ja doch noch ein wunderbarer Tag.

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