Ein Weg im Jahr  2004

Fertig.

Behaglich streckt er die Füße unter den leergeräumten Schreibtisch.
Wischt noch einmal mit der Hand über die Platte,
schaut auf seinen Bildschirm.
Es war der neueste, der schnellste, der letzte –
ob er ihn doch mit nach Hause nimmt?
 
Ein Blick zurück  über die Schulter durchs Fenster:
Schön ist es hier gewesen, immer war er gerne hergekommen.
Doch nicht zurück blickt er jetzt,
nein: voller Vorfreude schaut er auf den Kalender.
Den lange gehegten Traum würde er sich jetzt erfüllen können.

Langsam – adagio – beginnt er.
Von einer Taste zur nächsten.
Sekund um Sekund kommt er vorwärts.
Nur nicht hasten.
Oder doch?
Ob er einmal einen Sprung versucht?
Terz klingt.
Herz tönt.
Sprünge – die mag er.
 
Der erste Wegweiser.
„JAKOBSWEG NACH SANTIAGO DI COMPOSTELLA“
 
Zwei Wanderer auf der Rückseite.
Was tragen sie da auf der Brust?
 
Der Mann links gefällt ihm: Mit dem würde er gerne weiterwandern.
Sportlich, intelligent, zu Fuß.
Musikalisch.
 
Und schon singt‘s in ihm:
„SANTIAGO ,  SANTIAGO“
 
Die letzte Silbe klingt wie ein Imperativ in seinen Ohren:
 
„Go – Go!“ 
„Go – Go!“ zu Fuß
Durch Frankreich – „Go – Go – Go!“
Und Spanien – „Go!“
 
Im Herzen ein Feuer – im Rücken den Wind.
So wandert er weiter.
Auf zu neuen Ufern!
 
Hei – wie die Schritte jetzt hüpfen!
Nichts hält ihn mehr.
Große Terzen über drei Steine.
Quart durch vier Moosbüschel.
Quint: fünf Pusteblumen.
Alle Sorgen: weggeflogen.
 
JAKOBSWEG – DER HIMMELSPFAD
 
Seit 1000 Jahren pilgern die Menschen in den Norden Spaniens.
Ein langer Weg.
Doch von Zeit zu Zeit: das Moos berühren –
Dem Gras beim Wachsen zuhören.
 
Wo bettet er sein Haupt?
Im Kloster auf Zeit?
 
Wandern – Wandern – Wandern
Exakte Karten zeigen den Weg.
Etappen, Höhenprofile wollen studiert sein.
 
Wie wenig er braucht!
Luft, Erde, Wasser: alles umsonst!
Und Feuer brennt im Schützen immerdar.
Und Träume:
Mehr in seiner Seele
Als die Realität zerstören kann.
 
Manche Kirche säumt seinen Weg.
Dünkt sie bekannt?
Ist das  J    K   BUS
Im Portal?
 
Ein anderes Bild:
 
N U R
 
Sein Spiel aus der Kindheit:
Von rückwärts lesen:
 
R U N
 
RUN   RIVER   RUN
 
Nur wer sich ändert, bleibt sich treu.
 
Treu – er denkt an sein Liebstes.
Freut sich nun auf die letzte Etappe.
Sand lädt ein.
Da ist sie: die Muschel.
Seine Fußspuren auch.
Erinnern ihn an eine Geschichte,
lang erzählt.
In der Kapelle am Berg.
 
Oder ist es Wüste?
Blick auf den Kompaß:
Umweg?
 
Der nächste Wegweiser.
SANTIAGO
 
Federleicht ist er,
dabei fest wie ein Fels.
Vogelfrei
Verwurzelt
Beflügelt.
 
Er macht einen Luftsprung
Und bleibt.
Bleibt in der Luft,
setzt den Fuß
auf die Wolke,
die trägt.
 
Nicht Schlafes Bruder,
Luftgänger
Ist er,
kann es jetzt sein.
 
Und am Ziel:
Der Schatz
Die Perle
Wartet auf ihn,
 
Dezember 1999

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