Schrecksekunde

Sie fahren vor uns hinauf: Jürgen und Florian im Doppelsessellift, Skier an den Füßen, Stöcke in der Hand. Oben hilft ihnen der Liftboy heraus. Gleich sind wir dran; immer bin ich ein bißchen unruhig beim Aussteigen. Kurz vor dem Ziel öffnen wir die Sicherheitsbügel.
So, das hat geklappt!
Meine Skier rutschen von selbst die kurze Schußstrecke hinunter. Ich drehe mich um Benjamin müßte gleichzeitig ausgestiegen und dicht hinter mir sein.
Doch wo ist Benjamin?
Ich schaue hinauf – der Lift fährt langsam in die Umkehrschleife. Mein Sessel ist leer im Nachbarstuhl sitzt Benjamin. Er ist fünf. Er hängt, hängt schief im Stuhl, den Bügel geöffnet, bereit zum Aussteigen. Er schwebt über die Skipiste; die liegt zwanzig Meter unter ihm. Hat der Liftboy auf seiner Seite ihm nicht herausgeholfen?
Alles Blut sammelt sich mir zu einem Klumpen. Ein Schrei fährt aus meinem Mund: „Bleib‘ sitzen, lehn‘ dich zurück!“ Die Skiläufer ringsum erstarren – keiner sagt ein Wort.
Beide Lifthelfer mit hochroten Köpfen schalten den Lift auf die geringste Geschwindigkeit. „Benjamin, bleib‘ sitzen, rühr‘ dich nicht!“ Der Lift bewegt sich weiter im Rund, das Kind preßt sich in den Sessel, die schweren Skier an den Füßen, die Stöcke im Arm, schwebt es über dem Abgrund.

„Lieber Gott, laß‘ nichts passieren, nichts passieren, nichts passieren!“

Nie wieder will ich auf Skier steigen. Doch Benjamin, kaum hat er wieder Boden unter den Füßen, saust die Schußstrecke hinab.

„Fahren wir nochmal, Mama?“

23. Februar 2000

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