Siebzehn

Sie konnte noch nicht wieder mitsingen nach ihrer Halsentzündung, aber zuhören würde sie natürlich.

Um alle Chorsänger auf der Empore zu erkennen, muß sie sich recken. Im Sopran: ihre Schwester, Freundinnen im Alt, Tenor jetzt: Richard, Hans, Joachim. Tenöre immer Mangelware.

Und dann sieht sie ihn:
Ein hellblonder Schopf.
Hört seine helle Stimme.
Ein neuer Sänger?
Wieso kennt sie ihn nicht?
Christoph.

Im Chor, als sie wieder singen kann in der folgenden Woche, bemerkt er sie. Immer wieder schaut sie heimlich aus ihren Choralnoten Richtung Tenor. Besonders hilfreich die Zeiten, wenn der Tenor alleine übt und der Sopran pausiert. Da kann sie ihn ungeniert beobachten.

So blond ist er, und diese Augen! Doch wenn sein Blick sie trifft, flüchtet sie in ihre Noten, vertieft sich in die Johannespassion. Nur sich nicht erwischen lassen! Nur ihn nicht offen anschauen! Alle anderen, ihn nicht!

Während der Woche aber denkt sie an nichts anderes. Wie kann man so blond sein? Solche Augen haben! Sie liegen tief unter Schlupflidern in der Augenhöhle und manchmal in den folgenden Wochen schauen diese Augen sie an. Galt dieser Blick ihr?

Und dann seine Frage, ob sie beide eine Schiffahrt mit ihm unternehmen. Er fragt BEIDE, da die Schwestern, wie Zwillinge, immer zusammen sind und man kaum an nur eine von ihnen herankommt.

Am Abend des Tages zu dritt dann die Vereinbarung eines weiteren Treffens. Diesmal zu zweit.

Er bricht sich das Bein und kann nicht kommen. Sie schreibt ins Krankenhaus, einmal, zweimal, dreimal in der Woche. Schreibt sich die Seele aus dem Leib.
Spärliche Antworten.

Kurz danach geht er zum Architektur-Studium nach Karlsruhe. Wenige Briefe, die sie von ihm erhält und auswendig lernt. Einmal besucht er sie in den Ferien.

Nach Monaten verläßt sie selbst die Stadt, wandert aus nach Amerika. Auf dem Flughafen: ein blonder Schopf. Ihr Herzschlag steht.
Und auf jedem Bahnhof, in jeder größeren Menschenmenge sucht sie blonde Haare und hellblaue Augen.

Freunde kommen und gehen.

Zurück aus Amerika ruft sie seine Eltern an, besucht sie, unbekannt. Seine Adresse enthält einen zweiten Namen, die Verlobte wohnt bei ihm. Sie fährt dennoch hin, bleibt einige Tage. Doch im Zug von Karlsruhe weint sie, weint sich bis Frankfurt die Augen aus.

Nach Jahren erfährt sie von seinem Kind, und auch von seiner Scheidung.

Sieben Jahre, sieben biblische Jahre, hat sie Leid um ihn getragen.

Doch die siebzehn, die siebzehn bleibt ihre Lieblingszahl.

zur Übersicht