6. Tag Wolfsburg – Dorstadt

Wolfsburg-Dorstadt 51 km
3344 Dorstadt
Kath. Kirchengemeinde
Haus der Besinnung
Harzstraße 49
05337/511

Am Morgen kleine Andacht in der Kapelle. Ein scheußlicher Hängeleuchter stört meine Konzentration.

Kurz vor dem Abmarsch macht Rüdiger mit einigen Interessierten eine leichte Gymnastik. Hildegard hat das Aufräumen im Haus voll im Griff. Sie macht das prima. Christoph versucht, den Bus zu einzuräumen. Ein paar Müllkisten räume ich weg. Später erfahre ich, daß sie hätten mitgenommen werden sollen. Was soll?s. Wenn man nicht anpackt, wird man angemault, und wenn man was tut, ist’s auch wieder falsch.

Christoph als Gruppenleiter sollte die notwendigen Aufgaben ansprechen und dann an Teilnehmer aufteilen. Viel Leerlauf, unnötige Warterei und Ärger könnten wir uns damit ersparen. Aber er meint, das müsse von ganz allein gehen, wenn nur jeder guckt, was zu tun ist. Daß dann vieles doppelt oder aber gar nicht läuft, weil die Koordination fehlt, will oder kann er nicht einsehen.

Langer Hatsch durch sandige Kiefernwälder. Mittags zum ersten Mal vor einer Kirche in der Sonne geschlafen. Der Kirchvorplatz etwas oberhalb der Straße, eine Treppe hinauf. Schöne alte Bäume. Christoph ruft mich. Ich soll mich über eine Karte beugen. Erst hinterher kapiere ich: Es ist für die Presse, die zwischenzeitlich da ist, und ein hübsches Foto möchte.

OK, wenn ihm so viel dran liegt.

Die Strecke wird immer länger. Scheinbar. Im Süden ein Gebirgsrücken, den wir meiner Meinung nach umrunden müssen.Wir gehen teilweise durch Waldstücke, Wege im Zick-zack. Ich glaube, Christoph hat sich verlaufen. Die Sonne wärmt angenehm, macht aber auch Durst. Spätnachmittags am Ortsausgang von Dettum links eine Sportgaststätte. Ich schlage Schorle vor. Christoph und Anna setzen sich alleine an einen Tisch. Warum sondern sie sich ab?

Mit 1 Liter Apfelsaftschorle aufgetankt geht’s flott weiter in den Abend hinein. Weit kann es ja nicht mehr sein.

Wer mit Übersinnlichem nix am Hut hat, überschlage den hellen Text.

Ich drehe beim Gehen meine Handflächen nach vorne, um mit ihnen den herrlich milden Abend einzufangen.

Ich empfange aber zusätzlich Etwas:

Ganz deutlich habe ich links von mir das Gefühl, von jemandem begleitet zu werden; dabei gehe ich doch allein. Meine Begleitung sieht mich von der Seite an und ich erkenne, wer es ist: zum einen Teil ist es ein jung gestorbener Freund aus meiner Jugend- und Studentenzeit, zum zweiten – nicht lachen – meine Großmutter und zum dritten ein väterlicher Freund aus meiner Schulzeit, in dessen Familie ich viel Zeit verbracht habe. Auch er ist bereits tot. Die “Drei” (eigentlich ist es nur “Eins”) lächeln mir aufmunternd zu, als wollten sie sagen: “Du schaffst es!”

Noch heute läuft mir, wenn ich zurückdenke, wie damals, ein kalter Schauer den Rücken runter.

Dieses freundliche Zulächeln scheine ich richtig verstanden zu haben, denn die “Drei” drehen sich zufrieden weg.

In den weiteren Tagen der Tour hatte ich noch einige Male Kontakt zu meinen Begleitern. Einmal konnte ich mich sogar mit ihnen unterhalten.

Das war, kurz nachdem Frank aufgegeben hatte. Mir war seine Enttäuschung sehr nahe gegangen, und ich fragte mich, während wir vor uns hin wanderten, warum er aufgeben musste, und ich das Gefühl hatte, es gut schaffen zu können. Plötzlich sind sie wieder da:

“Er war noch nicht so weit” sagen sie in meinen Kopf, drehen sich wieder weg und sind verschwunden.

Es ist mir nie gelungen, sie bewusst zu rufen und anzusprechen.

Die Gruppe zieht sich weit auseinander, denn Anna muß ja unbedingt noch Honig kaufen.

Den Bergrücken des Asse geht es geradeaus bis zur halben Höhe hinauf. Wir rasten an einer Bank am Waldrand und warten auf die anderen.

Der Blick über das leicht hügelige Land in der Abendstimmung ist herrlich.

Heute mussten wir zum ersten mal Urin sammeln. Alle haben ihre gefüllten 2-Literflaschen im Rucksack. Hans, unser Ältester, geht ein Stück hinauf in den Wald, um seiner Flasche den Rest zu geben. Schließlich ein Fluch: sie ist umgekippt, die Ernte des ganzen Tages verloren. Dr.Kienzle, der versucht, die Tour wissenschaftlich zu begleiten, wird später darauf hinweisen, daß vor allem die Älteren unter uns dringend mehr trinken müssen. Die Urinausbeute sei sehr gering gewesen.

Im Wald rechts, dann links hinauf, sehr steil, weglos.

Oben kommen wir auf einen Pfad, der uns aus dem Wald hinaus vorbei am Falkenheim führt: Ein Hain mit Apfelbäumen, unter den Bäumen grasende Schafe, am Horizont geht die Sonne in einem milden Rot unter, sanfte Luft. Ein atemberaubend friedliches Bild.

Mir fällt ein, daß der Asse-Stock als Atom-Endlager vorgesehen ist.

Wir ahnen, es wird spät heute.

Runter ins Tal, durch Denkte. Wir rasten noch einmal; es gibt köstlich frische Zitronenschnitze zum Auslutschen. Aus dem Ort hinaus einen langen, offenen Hang hinauf. Ich stürme vorneweg, weil ich wissen will, wo wir rauskommen. Als ich oben bin, sehe ich nur im Abendgrau versinkende Täler, weit und breit kein Ort, der unser Ziel sein könnte. Es ist wohl doch noch weiter, als ich gedacht und im vorschnellen Optimismus der Gruppe verkündigt habe.

Es wird immer dunkler. Unten, auf der Landstraße, stürmt Stefan in einem solchen Irrsinnstempo davon, daß er seine Füße überanstrengt und den nächsten Tag aussetzen muß.

Die Nacht überfällt uns. Christoph will durch einen Gutshof abkürzen. Wir sitzen am Straßenrand, versuchen, unsere strapazierten Glieder zu ordnen und möglichst zu entspannen. Meine Beine tun weh, von oben bis unten.

Christoph verhandelt mit dem Gutsvertreter, ein großer Hund versperrt den Weg. Schließlich dürfen wir passieren. Quer über die Felder, eine kleine Brücke über die Oker, endlich Dorstadt. Es ist 23.00 Uhr. Das Gemeindehaus liegt am Ortsende; mehrere Zimmer; die unteren sind aber schon durch diejenigen belegt, die vorgefahren waren.

Wir finden zu dritt ein nettes Zimmer im Dachjuhe. Matratzen liegen im vorgelagerten Speicher. 2 Duschen im Haus, erträgliche Wartezeit. Anschließend gibts noch die medizinische Untersuchung und Gemüsebrühe. Blutdruck 140/80, Gewicht 77.5 kg, 6.5 Kilo abgenommen.

Morgen wirds schwer: Es geht über den Harz, eine der längsten und die bei weitem steilste Etappe. Wir müssen früh raus.

Also schnell ins Bett, für 3 Stunden Schlaf.

293 km

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