Mittwoch, 16.Juni 2004, 35,5 km
Wetter:sonnig, sehr heiß, frischer Wind
Heute nicht weit. Trotzdem um 6:15 Start, bins halt schon so gewohnt, außerdem ists morgens schön kühl.
Dass es ‘heute nicht weit’ ist (aber jeder Meter will gegangen sein) hakt sich im Kopf fest. Es geht mühsam, nicht so recht voran; muss meinen Füßen gut zureden. Hab auch gleich zu Anfang ein Bonbon gelutscht, sollte ich mir eigentlich als Belohnung aufheben, nicht als Vorschuss!. Solche Wege werden im Kopf gegangen. Wird mir am letzten Tag nochmal sehr bewusst werden.
Schöne Steigungen und Gefälle mal schattig im Wald, mal in der prallen Morgensonne. Immer wieder drei spanische Pilger, ein drahtiger Mann meines Alters und ein junges Paar, denen ich schon in den letzten Tagen begegnete. Gehen sehr flott! Frühstückspause in Boente. Die Spanier kommen auch. Bin so mit den Gedanken bei der Ankunft morgen, dass ich zu zahlen vergesse. Die Barbesitzerin aber nicht. Ahh, si, si el Camino, hat sie Verständnis. Hübsche Pilgerherberge direkt am Fluss neben einer Brücke. Auf staubigem Fels in tiefem Eukalyptuswald am Wegrand kleine Pause, Pilger ziehen vorbei.
Es will heut einfach nicht.
In Calle falle ich sozusagen direkt vom Weg aus in den einladenden Innenhof einer Bar. Nochmal willkommene Kaffeepause. Am Nebentisch führt Hamburger Familienvater das große Wort. Sind offenbar mit Begleitfahrtzeug und ganz frisch unterwegs, haben nur Rucksackwarzen dabei. “Ach wie herrlich sich die Beine nach einer Wanderung anfühlen!” Wird schon noch merken, dass sie sich auch anders anfühlen können. Zu junger Amerikanerin am Nebentisch, die sich mit Kniebeschwerden mühsam und tapfer vorwärtsgeschleppt hat: “And tomorrow you go to Santiago too?! Hahaha, another joke!” Sie zieht einen Mundwinkel etwas nach oben.
Weiter durchs Dorf, ein Bauer mäht die Wiese am Wegrand, sein großer Hund liegt quer. Ich konzentriere mich so auf ihn, dass ich den Abzweig nach rechts verpasse und mich wundere, dass auf einmal alle Hunde empört bellen. Also zurück. Über heiße Felder, Straße. Lange Mittagspause in Empalme, beobachte, wie Pilger falsch gehen, winke die richtige Richtung.
Auch hier wieder große Hinweisschilder für halbblinde Pilger in schattigen, apothekenbonbonduftenden Wäldern. Irgendwie sehen diese Eukalyptusbäume immer schlampig aus: graugrün baumelnde Blätter, abschilfernde Rinde. Nette kleine Amerikanerin kommt mir entgegen, ihr Wanderführer hat sie verwirrt, bei mir im Führer steht auch, es ginge dauernd bergauf, dabei gehts bergab, ist aber richtig. Sie geht sicherheitshalber lieber die Straße.
Ökologischer Sonnenschutz an properen Straßenhäusern in Rua. Am Ortseingang von Pedrouzo das Hotel, sieht aus wie eine Fernfahrerkneipe, ist aber sehr ordentlich mit überraschend ruhigen Zimmern im Rückgebäude.
Heißer Bummel durch das Straßendorf, lärmender Verkehr. Mitten in einer modernen Eisdiele gefährliche Bodenstufe, bei der ich mich gerade noch fangen kann. Hui!
Etwas oberhalb ruhige Bar. Tagebuch und so. Ein Münchner setzt sich zu mir, sieht mit seinem Schnauzbart aus wie der Alois vom “Münchner im Himmel” (ihr wisst schon: “Engl, boaniger!, ZäfixHalleluja!”), erzählt wie ein Buch, hat aus Versehen die Speicherkarte seine Digi neu initialisiert, alle Bilder seit Pamplona: weg! Zu mehr als Oh je und Mhm komme ich nicht, freu mich eine halbe Stunde an den heimischen Lauten. So, jetz hamma uns guat untahoit’n, jetz gäh I wieda zu meina Frau. Auf dem Display meines Handys habe ich Margret als Hintergrundbild gespeichert. Sie lacht mir vertraut zu, wenn ich es einschalte. Dann knippst die Stromsparsoftware sie einfach weg. Wie im richtigen Leben. Ich kann doch jetzt hier nicht heulen.
Pizza in Restaurant, mit Hackebeil statt Messer und Gabel: immer mit einem kräftigen Schlag ein Stück abgehackt und mit den Fingern gegessen. Spanien verliert gerade ein EM-Spiel. Wie werde ich mich morgen fühlen? Voll, leer, gar nicht?
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