11. Tag

Von Caldonazzo über den Klettersteig und den Monte Verena zum Rifugio Verenetta.

Wir warten, bevor wir starten. Dann durch die Stadt, mitten durch Apfelplantagen. Ich kann nicht widerstehen und pflücke mal hier, mal dort und verstaue die Äpfel in meinem Rucksack. Ich freue mich jetzt schon auf die Sonnenwiese, um die Äpfel genüßlich auszusaugen.

Hinein ins Flußbett, grünalgiges Rinnsal, langsam ansteigend, hinauf zum Einstieg in den Klettersteig. Vorher hält an einer Rechtskurve mit quietschenden Reifen ein Fiat, die Seitentür springt auf, ein Rucksack fällt raus, dann ein Mensch: Dorine; zappelt sich zurecht und schließt sich uns an.

Eine kleine Gruppe geht mit Christof über den Jägersteig, der im unteren Teil auch recht steil ist, oben auf der bequemen Straße immer herrliche Blicke in das Caldonazzotal erlaubt.

Wir steigen ganz ruhig an. Unsere ganz Schnellen: Michael, Veronika etc. lasse ich vor, damit sie sich auslaufen können. Ich gehe bewusst langsam, weil ich der Gruppe Atem sparen will für die steilen Stücke oben, die man nicht mehr so gleichmäßig gehen kann. Langsam geht es aufwärts, teilweise über mannshohe Felsklötze im Bach, teils Steigeisen, teils sandige Serpentinenpfade bei denen man immer Angst haben muß, auszurutschen.

Schließlich die ersten Seilsicherungen, einen Erdsteilhang hinauf. Auf dem Plateau mit grandiosem Blick ins Tal will ich warten, bis wieder alle beisammen sind. Die meisten ziehen aber langsam weiter, so daß ich mich entschließe, auch wieder loszugehen.

Steile Felsbänder, ich ziehe mich an den Seilen hoch, ein Felsstreifen, leicht nach außen abfallend, umrundet einen Block, Schlucht mit Balkenbrücke, die sich sehr schwankend anfühlt, wieder über Seile nach oben geklettert- und da geht es plötzlich wieder abwärts. Ganz überraschend öffnet sich ein Tal, in das wir wieder ca. 100 m absteigen müssen. Zunächst über eine sandige Schrägrutsche, die ich mit sehr viel Vorsicht angehe, dann einen seilgesicherter steilen Felsbuckel hinunter, an dem man sich rückwärts wie ein Fassadenkletterer hinablassen kann. Kurzer Weg auf der Talsohle, dann wieder  steile Anstiege über Leitern und Seile. Der Weg ist hervorragend markiert und präpariert, aber trotzdem anstrengend und gelegentlich aufregend.

Am Fuß eines schiefergrauen Schotterfeldes, etwa 200m unterhalb des Aufstiegsendes, nach 700 m Anstieg, sitzt Michael und macht Panik.

Er sei vorgegangen und da gebe es eine Stelle, da käme man nie durch und schon gar nicht mit einer Gruppe: mitten im entsetzlich steilen Felsabbruch hinge noch der Rest eines Stahlseiles. Ihm sei das Herz in die Hose gefallen als er sich zurückgetastet habe. Jeder Neuankömmling erfährt die Horrormär und ich merke, wie sich auch bei mir Panik breit macht.

Kühlen Kopf bewahren.

Ich bitte Michael, mir noch mal zu erklären, wo die Stelle sei und dann den Mund zu halten.

Das erste tut er, das zweite nicht. “Halt deinen Mund und mach mir die Leute nicht verrückt” werde ich scharf. “Ich gehe jetzt mal vor und sehe, wie wir weiterkommen”.

Vorsichtig nach nach rechts über ein Schotterfeld. Einige versuchen es oberhalb, aber dort treten sie lauter Steine los. Für die Untengehenden nicht ganz ungefährlich.

Die Brocken fallen mit lautem Gepolter in die Tiefe. Eine rot-weiße Markierung ist gut zu erkennen. An einem schwarzen Fels in der Mitte des Schotterhanges ein Stahlseil. Ich ziehe mich hoch. Dann knickt der Weg nach links, deutlich als Absatz im Schotter erkennbar und mündet auf einer gut ausgebauten Brückenkonstruktion über einen Felsabsturz. Noch kann ich keine gefährliche Stelle entdecken.

Nach der Brücke auf immer bequemer werdendem Pfad ganz hinauf. Michael muß sich irgendwo verlaufen haben. Ich bin sehr erleichtert. Jutta dankt mir oben, daß ich die Ruhe bewahrt habe. Ein Capuccino von ihr sei mir sicher.

Halbschattiger Waldweg zu einer sonnigen Lichtung, oben sieht man schon das Gasthaus. Wir machen es uns aber zunächst mal unten bequem, um auf die Anderen aus dem Klettersteig zu warten, die uns hier besser finden können. Ich begebe mich etwas abseits an den Waldhang, da liegt sich’s bequemer. Raus aus dem klitschnassen Hemd und Unterhemd. Heute habe ich trockene Sachen dabei. Ein herrliches Gefühl, in der warmen Sonne.

Ich freue mich und bin sehr erleichtert, daß alle es so gut geschafft haben.

Michael kommt wie ein begossener Pudel zu mir, ihm ist die ganze Sache furchbar peinlich er kann sich nicht erklären, was er wo gesehen hat. Kann jedem mal passieren. Aber wichtig ist in jedem Fall, daß man die Nerven nicht verliert. Er ist zufrieden und trollt sich. Mein Gott, ist der noch jung!

Ahh! Herrlich! Sonne! Apfel auszuzeln! Friede! 

Von wegen.

Aus der Gruppe unten laute, gereizte Stimmen: Gerda, Knut und Petra streiten sich. Ossis und Wessis sind halt doch nicht so leicht unter einen Hut zu kriegen. Einigen fällt das auf den Nerv, sie packen ihre Sachen und kommen zu mir an den Waldrand.

Nahezu gleichzeitig brechen wir alle auf, um uns mit den Anderen im Gasthaus zu treffen. Apfelsaftschorle, der versprochene Capuccino von Jutta.

Sie bedankt sich nochmal. Wird ja langsam peinlich. Ich hatte doch auch Angst.

Vereinbare mit Christof den Starttermin. Wenn ich sicher vor Dunkelheit im Verenetta sein will, müssen wir spätestens um 16.00 Uhr am Fuß des Monte Verena stehen. Start also um 13.30 Uhr, dann ist Zeit genug.

Wäre Zeit genug.

Christof wählt einen schönen Umweg, der Zeit kostet und leistet sich und uns den Genuß der Kraniche des Ibikus.

Mir läuft die Zeit davon, und ich deute an, daß alle, die mit zum Monte Verena wollen, sich auf ein flottes Tempo einstellen müssen. Ich betone das mehrfach, trotzdem startet eine Gruppe von ca. 40 Wanderern. Mir wird ganz schlecht, als ich das merke. Mittendrin auch Petra und Knut. Ich fürchte, sie schafft das nicht in der notwendigen Zeit.

Der Anstieg zum Verena ist sehr steil, unwegsam und mühselig.

Wir gehen los, sehr flott, die Gruppe teilt sich bald in 2 Hälften. Wir haben ca. 10 km hügelige Alm vor uns, die wir in nur 1Stunde und 15 Minuten bewältigen müssen. Eigentlich bin ich darüber ganz froh. Wer dieses Tempo durchhält, schafft dann auch den Verena.

Einige Minuten nach 16.00 Uhr sind wir an der Wegegabelung. Friderike beschließt, nicht mehr über den Verena mitzugehen, einige andere schließen sich ihr an. Sie warten hier, bis der Rest der Gruppe kommt und gehen dann direkt zum Hotel. Bin ich froh, daß wir so eine Lösung haben.

Der Gipfel des Verena steckt dauernd in schwarzgrauen Wolken, und ich bin mir nicht sicher, ob es  überhaupt sinnvoll ist, ganz hinauf zu gehen. Eventuell kürzen wir am Absatz in der Mitte ab.

Wir gehen los. Zunächst über eine flach ansteigende Alm. Tief im Wald sind gelbe Markierungen zu sehen. Ich weiß, daß der Pfad sehr schlecht zu finden und zu sehen ist und wir viel Glück brauchen, ihn nicht zu verlieren. Dann leicht nach rechts, immer am Hang ansteigend, durch lichten Wald.

Mist.

Auf einmal sind keine Markierungen mehr zu sehen. Aber ich weiß, daß wir noch etwas nach Süden müssen. Also weiter, quer durchs Gelände. Schließlich ein Steilhang mit einer schwachen Spur abgestiegener Kühe in der Falllinie. Wir steigen an. Sehr langsam, sehr anstrengend. Der Hang will nicht aufhören. Ich kontrolliere meinen Höhenmesser. Wir müßten jetzt bald an einer flachen Stelle ankommen, wo wir in jedem Fall den markierten Pfad wieder treffen.

Da ist er ja.

Erleichtert folge ich den Markierungen nach links über eine flache Mulde, dann in einem leichten Bogen nach rechts durch lichten Wald, steil ansteigend. Plötzlich ist die Markierung wieder verschwunden. Macht nichts.

Wir gehen weiter an der Hangkante entlang quer durchs Gehölz. Teilweise muß man gut aufpassen, um nicht in versteckte Löcher zwischen Felsbrocken zu treten. Mehrfach bestimme ich unsere Position. Die Lage stimmt, aber wir müssen noch erheblich höher hinauf. Ein ganz steiles Stück, oben etwas durch Felsen, über glatte Steine, eine flache Mulde lädt ein. Keuchend lassen wir uns fallen. Pause. Ganz tolle Gruppe, keiner jammert.

Geradeaus, über den nächsten Steilhang, müssen wir auf die Almstraße treffen, die auf halber Höhe die Mittelstationen der Sesselbahnen erschließt.

Wir brechen auf und kommen auch schön auf den Weg. Jetzt liegt das Ziel klar vor uns: Der Gipfel des Monte Verena, steile Skiabfahrten als Aufstieg. Noch ein Stück harte Arbeit.

Ich zeige Michael und Veronika den Weg und schicke sie schon mal los. Wir blicken nach oben:”Kommen wir hier wieder runter?” fragt Heide, die halb hinter mir steht “dann könnte ich ja hier warten”. “Da wärst Du aber hinterher arg enttäuscht”.

Sie geht mit, vor mir her. Irgendwann nach 2/3 Aufstieg setzt sie sich plötzlich hin. Ich habe Sorge, daß sie mir zusammenklappt und ziehe sie hoch:”Nicht hinsetzen! Wir gehen jetzt ganz ganz langsam weiter, kleine Schritte, aber gehen!”.  Ihre Schrittlänge ist immer noch etwas zu groß, aber die Schrittfrequenz ist langsam genug. Ich merke, wie sie wieder zu Atem kommt und bin beruhigt. Wir gehen durch bis zum Gipfel mit den zerstörten Verteidigungsanlagen. Allgemeiner Stolz; außerdem bricht rechtzeitig die Sonne durch. Aber der Wind ist kalt. Gipfelfoto. Und noch eins.

Unten an der Bergstation trinken wir noch etwas und machen uns dann an den Abstieg. Bei Dämmerungseinbruch kommen wir an. Heide(Hamburg) bereitet mich auf Ärger vor, da Knut und Petra sich beim Verenaanstieg ausgeschlossen fühlten.

Man wird sehen.

Ein Tisch sitzt beisammen (Knuts Familie und Petra) und mosert. Als ich ein paar mir geltende Worte aufschnappe, sage ich Knut, daß ich nach dem Abendessen gerne Stellung nehmen werde.

Das wird dann eine etwas triste Veranstaltung, nach der wir uns hinterher bemühen, zerschlagenes Porzellan zu kitten. Ich schlage ein Gute-Nachtlied vor, von dem ich seit dem Abend in Caldonazzo weiß, daß es Knuts Mutter gut gefällt. Sie nimmt das Friedensangebot an. Anschließend versuche ich, Knut zu verstehen zu geben, daß es mir auch lieber gewesen wäre, wenn wir alle zusammen hätten gehen können, aber…na ja, er schmollt weiter. Vielleicht sind das ja auch noch Nachwehen vom Weißhorn.

Von guten Mächten wunderbar geborgen

erwarten wir getrost, was kommen mag.

Du bist bei uns am Abend wie am Morgen

und ganz gewiß an jedem neuen Tag.

Ich schlafe hervorragend in einem kleinen Kammerl zusammen mit Günter und Wilfried(groß). Günter erklärt mir, daß er nur eine Garnitur Unterwäsche dabei habe, die er jeden Abend wasche und morgens feucht anziehe. Sie trockne dann auf der Haut. Köstlich! (Bei Regenwetter friert mich schon bei dem Gedanken).

Am nächsten Morgen, als ich meinen Koffer die Treppe runtertrage, kommt mir Wilfried (klein) entgegen, der mit seiner Frau mit auf dem Verena war, strahlt mich an, umarmt mich um sagt:”Du machst das ganz toll”. Weg ist er.

Ich kämpfe mit den Tränen.

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